Die Weltwirtschaft verändert sich tiefgreifend. Jahrzehntelang galt Globalisierung als Garant für Wohlstand und Effizienz. Heute mehren sich die Zeichen einer gegenläufigen Entwicklung: „Im Rahmen der Sicherheitsdebatte gewinnen nationale Interessen an Gewicht und Staaten greifen zunehmend in wirtschaftliche Prozesse ein“, sagt Mathias Beil, Leiter Private Banking bei der Hamburger Sutor Bank. „Die Deglobalisierung schreitet voran – mit weitreichenden Folgen für Märkte und Anleger.“
Fall Nexperia: Offene Märkte sind verwundbar
Ein Beispiel liefert der niederländische Chiphersteller Nexperia. „Was als Symbol internationaler Kooperation begann, ist nun ein Lehrstück über geopolitische Abhängigkeiten“, so Beil. Nachdem der Konzern 2016 an ein chinesisches Konsortium verkauft worden war, übernahm die niederländische Regierung im Oktober 2025 die Kontrolle über das Unternehmen. „Hintergrund sind Sicherheitsbedenken und der Versuch, die technologische Souveränität Europas zu sichern“, sagt Beil. Der Schritt verdeutlicht, wie sehr wirtschaftliche und politische Interessen mittlerweile miteinander verwoben sind.
Die Auswirkungen reichen weit über den Technologiesektor hinaus. Die Automobilindustrie kämpft infolge von Lieferengpässen bei Halbleitern mit Produktionsausfällen, während in Brüssel und Berlin neue Programme zur Reindustrialisierung Europas vorbereitet werden. „Der Fall Nexperia zeigt exemplarisch, dass offene Märkte verwundbar geworden sind – und dass Staaten bereit sind, wirtschaftliche Eingriffe als Mittel geopolitischer Strategie zu nutzen“, so Beil. Diese Entwicklung markiert den Beginn einer neuen wirtschaftlichen Ära. Jahrzehntelang galt das Prinzip: Produktion dort, wo sie am günstigsten ist. Heute zählt zunehmend, wo sie am sichersten und politisch stabilsten möglich ist. Der Trend zur strategischen Eigenständigkeit verändert die Wertschöpfungsketten und zwingt Unternehmen, ihre Strukturen neu zu denken.
Für Anlegerinnen und Anleger bedeutet das einen Paradigmenwechsel. Die Ära der grenzenlosen Globalisierung weicht einer Phase neuer Regionalisierung. Besonders große, stark international verflochtene Konzerne geraten unter Druck – durch Handelsbarrieren, regulatorische Auflagen und ihre Verwundbarkeit durch geopolitische Risiken. „Gleichzeitig entstehen neue Chancen bei Unternehmen, die ausgewogen zwischen lokaler Verwurzelung und internationaler Reichweite agieren“, sagt Beil.
Mittelgroße Unternehmen: hohe Anpassungsfähigkeit
„Gerade mittelgroße Unternehmen, die flexibel, innovativ und regional gut vernetzt sind, können von dieser Entwicklung profitieren“, sagt Beil. „Sie sind oft unabhängig genug, um globalen Störungen ausweichen zu können, aber gleichzeitig groß genug, um internationale Märkte zu bedienen.“ Ihr Geschäftsmodell basiert oft auf Anpassungsfähigkeit und Spezialisierung – Eigenschaften, die in einer Welt gestörter Lieferketten und wachsender Unsicherheiten an Bedeutung gewinnen.
Diese Unternehmen werden künftig stärker in den Fokus der Kapitalmärkte rücken. Viele von ihnen waren in den letzten Jahren wenig beachtet, bieten aber attraktive Bewertungen und solide Wachstumschancen. Für Investoren eröffnet sich damit ein neues Feld: Unternehmen, die weder vollständig globalisiert noch rein national ausgerichtet sind, werden zu stabilisierenden Ankern in zunehmend volatilen Märkten. „Diese Deglobalisierung ist insofern nicht Rückschritt, sondern der Beginn eines neuen Zyklus“, sagt Beil. „Themen wie Energieunabhängigkeit, technologische Souveränität und Sicherheit der Lieferketten prägen die nächsten Jahre.“
Für Anleger wird entscheidend sein, jene Firmen zu identifizieren, die auf diese Veränderungen vorbereitet sind – insbesondere mittelgroße Industrie- und Technologieunternehmen mit resilienten Strukturen und klarer strategischer Positionierung. „Europa steht vor der Aufgabe, seine wirtschaftliche Basis neu zu ordnen“, erklärt Beil. „Für Investoren bedeutet dies: die Risiken steigen, aber ebenso die Chancen. Wer die neue Logik versteht, die weg von grenzenloser Globalisierung hin zu kontrollierter Offenheit führt, kann von der Deglobalisierung profitieren.“