Lange Zeit galten europäische Banken als das Sorgenkind der Kapitalmärkte – doch nach Jahren der Transformation sowie schwacher Erträge haben sich viele der Institute modernisiert und sind nun ertragsstark aufgestellt. Während 2023 und 2024 vor allem US-Tech-Werte im Rampenlicht standen, überflügelte der europäische Bankensektor eher unbemerkt von der Öffentlichkeit den europäischen Markt. Dies war ausschließlich auf das zugrunde liegende Gewinnwachstum zurückzuführen.
Nach Einschätzung von Jon Ingram, Portfolio-Manager für europäische Aktien in der International Equity Group von J.P. Morgan Asset Management, bietet der europäische Bankensektor zusätzlich zu der zuletzt starken Kursentwicklung weiterhin erhebliches Renditepotenzial – insbesondere im aktuellen Zinsumfeld. „Es mag überraschen, dass ein großer Teil der starken Performance im europäischen Aktienmarkt auf den Bankensektor zurückzuführen ist“, erklärt Ingram und blickt optimistisch in die Zukunft. „Obwohl viele Bankaktien in den vergangenen Jahren teils dreistellig zugelegt haben, halten wir sie weiterhin für günstig bewertet.“
Vergangenes Misstrauen weicht neuem Optimismus
Die Skepsis gegenüber den Banken in Europa hat die Wurzeln in der globalen Finanzkrise 2008 und die einige Jahre später folgende Staatsschuldenkrise in der Eurozone, die dem Bankensektor enorm zusetzten und das Anlegervertrauen nachhaltig erschütterten. Das darauffolgende Jahrzehnt der ultralockeren Geldpolitik und strengerer Regulierung setzten die Rentabilität des ohnehin schon schwächelnden Sektors weiter unter Druck. Doch das Bild hat sich gewandelt: Die Institute haben ihre Bilanzen gestärkt, Risiken abgebaut und ihre Geschäftsmodelle grundlegend modernisiert. „Wir sehen im europäischen Bankensektor aktuell sehr gut geführte, sehr effiziente Unternehmen“, erklärt Jon Ingram. „Die Regulierungsanforderungen haben sie dazu gezwungen, konservativ zu wirtschaften und mit schlanken Kostenstrukturen zu arbeiten. Die Folge ist ein Sektor, der heute deutlich robuster ist als in der Vergangenheit.“
Diese neue Stabilität zeigte sich auch in Krisenmomenten der jüngeren Vergangenheit. Weder die Corona-Pandemie noch der Zusammenbruch einzelner US-Banken oder die Krise rund um die Credit Suisse haben den europäischen Sektor nachhaltig erschüttert. „Der Bankensektor ist belastbarer denn je“, betont Ingram.
Bewertungen bleiben attraktiv – trotz Kursanstiegen
Trotz der beeindruckenden Kursrally vieler Banktitel, von denen einige seit 2020 um bis zu 600 Prozent zugelegt haben, sieht Ingram weiterhin gute Einstiegsmöglichkeiten. „Es gibt immer noch eine große Anzahl europäischer Banken mit einstelligen Kurs-Gewinn-Verhältnissen. Einige der Institute bieten ihren Aktionären Gesamtrenditen von über zehn Prozent durch Dividenden und Aktienrückkäufe“, sagt Ingram.
Dass die Bewertungen nach wie vor attraktiv sind, liegt laut Ingram vor allem an der extrem niedrigen Vergleichsbasis im Jahr 2020. „Tatsächlich waren die Aktienkurse vor fünf Jahren außergewöhnlich, nicht die Kurse in diesem Jahr. Die starke jüngste Kursentwicklung spielt für uns daher eine untergeordnete Rolle, wir konzentrieren uns vielmehr auf die absoluten Bewertungen“, führt Ingram aus.
Zinsumfeld bleibt ein entscheidender Faktor
Ein wesentlicher Faktor für die positive Entwicklung des Sektors ist das Zinsumfeld. Nach der mehr als ein Jahrzehnt andauernden Phase der ultra-niedrigen und sogar negativer Zinsen befindet sich Europa aktuell in einem moderaten, historisch normalen Bereich. „Die Zinssätze haben für den Bankensektor enorme Bedeutung“, erklärt Portfolio-Manager Ingram. „Ein Umfeld negativer Zinsen macht es für Banken sehr viel schwieriger, Gewinne zu erzielen“, sagt Ingram. Denn dies bedeute für das operative Geschäft einer Bank, dass sie jedes Mal, wenn ein neuer Kunde ein Girokonto eröffnete, tatsächlich Geld verloren hat.
Doch die Rentenmärkte deuten nach Einschätzung von Jon Ingram aktuell nicht darauf hin, dass sich die Phase der negativen Zinsen in absehbarer Zeit wiederholen könnte. „Es sieht vielmehr so aus, als ob wir in dieser normalen Bandbreite der Zinsen bleiben dürften. Für Banken ist das eine positive Perspektive“, erklärt Ingram.
Struktureller Rückenwind und politische Impulse möglich
Neben den soliden Fundamentaldaten und dem stabilen Zinsumfeld könnten künftig auch politische Entwicklungen neuen Schwung für den europäischen Bankensektor bringen. Mit den geplanten Investitionen in europäische Verteidigung und Infrastruktur – getrieben durch geopolitische Spannungen und die „America First“-Politik der USA – sind zusätzliche Wachstumsimpulse zu erwarten. Die Europäische Kommission schätzt den Bedarf auf rund eine Billion Euro, um die Verteidigung Europas zu stärken und die europäische Infrastruktur zu verbessern.
„Sobald diese Investitionen umgesetzt werden, können Banken vom steigenden Finanzierungsbedarf, neuen Kreditvergaben und Investitionsmöglichkeiten profitieren“, sagt der europäische Aktienmanager Ingram.
Einige politische Unsicherheiten bleiben – aktive Auswahl entscheidend
Trotz der insgesamt positiven Rahmenbedingungen sieht Jon Ingram jedoch nach wie vor einige Unsicherheit von politischer Seite, insbesondere mit Blick auf die Volatilität der Aktivitäten der US-Regierung. Zwar seien Banken von den US-Zöllen nicht direkt betroffen, doch sind sie indirekt durch eine Verlangsamung des Wachstums gefährdet, wobei die wirtschaftliche Unsicherheit das Risiko einer Rezession erhöht. Eine schwächere europäische Wirtschaft würde die kurzfristigen Gewinne und Dividenden der Banken belasten – vor allem, wenn zusätzlich billige chinesische Importe aus den USA nach Europa umgeleitet werden und dadurch eine importierte Deflation entsteht. Das könnte die kurzfristigen Zinsen deutlich sinken lassen.
Innerhalb des europäischen Bankensektors sieht Ingram gleichwohl Unterschiede. Nicht alle Institute hält er für gleich gut aufgestellt. „Wir sind überzeugt, dass europäische Banken langfristig wertvolles Potenzial bieten – aber es ist entscheidend, die richtigen Unternehmen zu identifizieren. Qualität, Bilanzstärke, Kapitaldisziplin und eine klare Strategie sind ausschlaggebend“, sagt Ingram.