Für viele Anleger mag die Argumentation paradox klingen. In ihrem Finanzstabilitätsbericht hat die Europäische Zentralbank (EZB) zunächst ein Loblied auf Gold als Anlageklasse angestimmt: In ihrer Auswertung historischer Preisentwicklungen kommt die EZB zu dem Schluss, dass sich Gold als wirksamer Schutz vor Inflation und als sicherer Hafen für Vermögen bewährt habe.
Als einzige Vermögensklasse habe sich Gold in Zeiten hoher geopolitischer Risiken und politischer Unsicherheit behauptet. Das habe seit 2023 die beispiellose Rekordjagd beim Goldpreis befeuert. So weit nichts Neues, aber eine schöne Bestätigung für alle Goldanleger.
Doch dann die Warnung: Seit Jahresbeginn habe es am Gold-Terminmarkt eine deutlich gestiegene Nachfrage nach Terminkontrakten mit physischer Goldlieferung gegeben. Das könne in extremen Szenarien dazu führen, dass vom Goldmarkt ausgehend der gesamte Finanzmarkt instabil werden könne. Nachschusspflichten und die Auflösung von gehebelten Goldderivaten – Stichwort Short Squeeze – könnten zu Liquiditätsengpässen bei den Akteuren am Goldmarkt führen. Dieser Schock könne sich auf das gesamte Finanzsystem ausbreiten.
Eine Finanzkrise ausgehend vom sicheren Hafen Gold?
Was genau steckt hinter dieser Warnung? Anleger sollten sich zunächst darüber im Klaren sein, dass der Goldmarkt in ein Wertpapiergeschäft und den Handel mit physischem Gold unterteilt ist. Physisches Gold benötigen vor allem Schmuckhersteller und der Goldhandel mit Barren und Münzen. Der zahlenmäßig größte Teil des Goldmarktes findet jedoch in Papierform statt, vor allem an der New Yorker Rohstoffbörse Comex. Dort verkaufen beispielsweise Minen, Scheideanstalten sowie große Goldhändler, Produzenten von Kleinbarren und Investoren ihr Gold in Termingeschäften. Das heißt, sie kaufen und verkaufen Gold zum aktuellen Börsenkurs, die Lieferung erfolgt jedoch erst später, teilweise erst in fünf, zehn oder sogar 20 Jahren.
Diese Future-Kontrakte werden in viel größerer Zahl gehandelt, als dies mit physischem Gold mit entsprechenden Kontrollen, Transport, Auslieferung und Lagerung möglich wäre. Ihr Volumen übersteigt die weltweite Jahresproduktion von Gold um das Zigfache. Doch die meisten Akteure wollen lediglich von der Goldpreisentwicklung profitieren und haben in der Regel gar kein Interesse an einer physischen Auslieferung. Dass nur ein kleiner Teil des gesamten Goldmarktes durch physisches Gold gedeckt ist, ist in der Regel kein Problem, vergleichbar funktionieren auch der Rohölmarkt oder der Handel mit Industriemetallen. All diese Rohstoffe werden vielfach gehandelt, bevor sie wirklich ausgeliefert werden.
Wird Gold physisch benötigt, hilft die Goldleihe
Aus diesem Grund ist die Goldleihe weit verbreitet. Große Schmuckhersteller oder Goldhändler etwa kaufen Gold am Terminmarkt mit Lieferung in fünf Jahren, benötigen es für ihr Geschäft jedoch sofort. Dafür leihen sie sich mit dem Termin-Kontrakt als Sicherheit das physische Gold zum Beispiel von Banken, die in ihren Tresoren Goldbarren horten. Diese Goldbestände, die nicht in den Handel gelangen, gibt es reichlich. Für das Ausleihen werden allerdings Leasing-Raten fällig, die physisches Gold gegenüber Papiergold verteuern.
Die EZB hat nun festgestellt, dass immer mehr Akteure am Terminmarkt die physische Auslieferung fordern, unter anderem, weil sie Zölle auf Gold oder Sanktionen gegen Staaten befürchten, die eine spätere Auslieferung verhindern könnten. In den USA war physisches Gold so knapp, dass in New York zeitweise 50 Dollar mehr pro physischer Feinunze gezahlt wurde als am zweiten großen Handelsplatz in London. Schon wegen des Preisunterschieds wurde so tonnenweise Gold von London in die USA geflogen. Deshalb hat die EZB gewarnt.
Leihgebühren stiegen schon im Lockdown
Die physische Auslieferung von Gold ist teuer und aufwändig. Daher steigen auch die Leihgebühren – und damit die Preisaufschläge von Barren und Münzen gegenüber dem Börsenpreis. In der Corona-Pandemie gab es eine vergleichbare Situation. Damals war physisches Gold allerdings knapp, weil viele Hersteller von Goldbarren und -münzen ihre Produktion im Lockdown schließen mussten. Die Folge: Der Goldpreis blieb einigermaßen stabil, aber die Leihgebühren schossen in die Höhe, weil etwa Banken, die Gold verleihen, deutlich höhere Leasing-Raten durchsetzen konnten.
Die EZB hat also in einem Punkt recht: Wenn alle Akteure gleichzeitig auf der physischen Auslieferung ihres Goldes bestehen würden, würden der Goldpreis und vor allem die Leihgebühren für Gold durch die Decke gehen. Spekulanten, die mit geliehenem Gold auf einen fallenden Goldpreis gewettet haben, und es dann zu einem bestimmten Termin zurückgeben müssen, müssen sich dann Gold zum Rekordpreis beschaffen. Fehlt ihnen Liquidität, müssen sie womöglich auch Aktien und andere Assets verkaufen. Dann spricht der Finanzmarkt von einem Short-Squeeze. Andere Anlageklassen könnten dadurch unter Druck geraten und dramatische Kursverluste erleiden – mit entsprechenden Folgen für den gesamten Finanzmarkt.
Goldbarren und -münzen bleiben in jedem Fall verfügbar
Dass dieses Szenario eintritt, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Einige Berichte über die EZB-Warnung sind eher Panikmacherei. Es gibt keinen plausiblen Grund anzunehmen, dass es zu derart heftigen Marktverwerfungen am Goldmarkt kommt. Vielmehr wird sich der Goldmarkt anpassen. Die Schmuckindustrie beispielsweise, die für den größten Teil der gesamten Nachfrage steht, senkt sofort ihre Produktion, wenn der Goldpreis ein gewisses Niveau übersteigt, weil dann auch die Schmucknachfrage sinkt.
Selbst wenn das beschriebene Szenario eintritt, könnten Anleger weiter Barren oder Münzen kaufen. Insbesondere Kleinanleger dürfen darauf vertrauen, dass die renommierten Goldhändler weiterhin Gold zum Sofortkauf anbieten. Allerdings könnte es etwas teurer werden. Da Gold wie von der EZB bestätigt als sicherer Hafen überzeugt, wenn andere Assetklassen unter Druck geraten und der Wertverlust von Papiergeld voranschreitet, ist ein steigender Goldpreis jedoch kein Nachteil – im Gegenteil.